Schnellere Abwicklung von Massenverfahren durch neues Leitentscheidungsverfahren am BGH?
Einleitung
Massenverfahren – die sog. Dieselverfahren sind dabei wohl die bekanntesten – führen zu einer intensiven Belastung der staatlichen Gerichte in allen Instanzen. Bisher fehlt es an einem wirksamen gesetzlichen Instrumentarium, um derartige Klagewellen effizient zu bündeln und einheitlich zu entscheiden. Die staatlichen Gerichte leiden an der hohen Anzahl gleichgelagerter Verbraucherbegehren, die in den massenhaft eingereichten Einzelklagen verfolgt werden. Die Erfahrungen der letzten Jahre mit Massenklagen haben gezeigt, dass es für eine effiziente Erledigung dieser Verfahren unabdingbar ist, dass der Bundesgerichtshof (BGH) als das höchste deutsche Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit zügig Leitentscheidungen zur Verfügung stellt. Solche Leitentscheidungen helfen den Gerichten der ersten und zweiten Instanz (sog. Instanzgerichte) dabei, sich an den höchstrichterlichen Wertungen des BGH zu orientieren und zeitnah zahlreiche Verfahren einheitlich abzuschließen, in denen sich immer wieder dieselben Rechtsfragen stellen. Das Problem hierbei bisher: Bis es zu solch höchstrichterlichen Entscheidungen des BGH kommt, vergeht meist viel Zeit. Denn erst wenn der Instanzenzug komplett durchlaufen ist, kann es zu einer Entscheidung des BGH kommen. Zeit, die die Instanzgerichte in der Regel nicht haben, da sie ansonsten von der Flut der Klagewellen erdrückt werden. Die Einführung der Musterfeststellungsklage im Jahr 2018 hat hieran nichts geändert.
II. Gesetzesentwurf des Bundesministeriums für Justiz (BMJ)
Diese sowohl für die Gerichte als auch die Parteien missliche Situation nimmt das BMJ nun in Angriff. Mit einem neuen Gesetzesentwurf, der die Einführung eines sog. Leitentscheidungsverfahrens am BGH vorsieht, soll es leichter werden, möglichst schnell höchstrichterliche Leitlinien des BGH zu wiederkehrenden Rechtsfragen zu erhalten.
Das neue Leitentscheidungsverfahren soll immer dann eröffnet sein, wenn eine Vielzahl von Einzelklagen gleichgelagerter Ansprüche bei Gerichten anhängig ist. In solchen Klageverfahren stellen sich stets die gleichen entscheidungserheblichen Rechtsfragen, auf die der BGH im Wege des neuen Leitentscheidungsverfahrens Antworten als Orientierungshilfe geben soll. Neben den bereits angesprochenen sog. Dieselverfahren sind aktuell Streitigkeiten von Verbrauchern mit Dienstleistern von Fitnessstudios (insbesondere zur Wirksamkeit von Vertragsklauseln) oder Fluggesellschaften (sog. Fluggastrechte-Verfahren) für das neue Leitentscheidungsverfahren prädestiniert.
Konkret sieht der Gesetzesentwurf dabei folgenden Verfahrensablauf vor: Der BGH sucht sich aus den Verfahren, die bereits bei ihm liegen (sog. anhängige Revisionsverfahren), dasjenige aus, das aus seiner Sicht am geeignetsten erscheint, um ein möglichst breites Spektrum an wiederkehrenden offenen Rechtsfragen zu erörtern und hierfür Leitlinien aufzustellen. Das Leitentscheidungsverfahren setzt damit nach wie vor voraus, dass der Rechtsstreit zunächst den gewöhnlichen und damit zeitaufwendigen Instanzenzug durchlaufen hat und bereits beim BGH liegt. Der BGH bestimmt dieses ausgewählte Verfahren dann per Beschluss zum sog. Leitentscheidungsverfahren (§ 552b ZPO Entwurf) und kann Leitlinien aufstellen, die dann für alle gleichgelagerten Parallelfälle Beachtung finden sollen.
Die Besonderheit: Der BGH soll in diesem ernannten Leitentscheidungsverfahren in jedem Fall eine Entscheidung treffen können. Selbst wenn sich die Parteien des Rechtsstreits (aus prozesstaktischen Gründen) gütlich einigen oder die eingelegte Revision zurückgenommen wird, soll es dem BGH – anders als üblicherweise von Gesetzes wegen vorgesehen – unbenommen bleiben, eine Art hypothetische Entscheidung zu treffen (§ 565 ZPO Entwurf). Der Grund hierfür liegt auf der Hand. Der BGH soll zügig Leitlinien aufstellen, an denen sich die Instanzgerichte orientieren können. Entscheidende wiederkehrende Rechtsfragen sollen auf jeden Fall beantwortet werden, damit alle gleichgelagerten Fälle von den Instanzgerichten ebenfalls zügig entschieden werden können.
Der Gesetzesentwurf stellt aber auch klar, dass die vom BGH getroffene Leitentscheidung keine formale Bindungswirkung und auch keine Auswirkungen auf das zugrundeliegende Revisionsverfahren haben soll. Die Leitentscheidung stellt lediglich eine Richtschnur als Orientierungshilfe für die unteren Gerichte dar, die diese dann für ihre eigene weitere Urteilsfindung in anderen gleichgelagerten Verfahren heranziehen können.
Zusätzlich soll es den Instanzgerichten mit Zustimmung der jeweiligen Parteien fortan auch ermöglicht werden, die bei ihnen anhängigen gleichgelagerten Verfahren, in denen sich die gleichen Rechtsfragen stellen, auszusetzen, bis der BGH eine Leitentscheidung getroffen hat (§ 148 Abs. 4 ZPO Entwurf). Die gleichgelagerten Parallelfälle werden quasi zunächst pausiert, bis die Instanzgerichte vom BGH die erforderliche Orientierungshilfe erhalten. Liegt diese vor, können die Instanzgerichte sodann die gleichgelagerten Parallelfälle erneut aufnehmen und möglichst schnell einer einheitlichen Entscheidung zuführen.
Fazit und Ausblick
Der Gesetzesentwurf des BMJ wird dafür sorgen, dass die Massenverfahren effizienter und schneller erledigt werden. Für die Justiz bringt das neue Verfahren die notwendige Entlastung der staatlichen Gerichtsbarkeit mit sich. Das Leitentscheidungsverfahren am BGH wird zudem Sorge dafür tragen, dass sämtliche Fälle, in denen sich die gleichen Rechtsfragen stellen, möglichst einheitlich entschieden werden. Nicht nur für die Instanzgerichte, sondern auch für die klagenden Verbraucher bedeutet dies ein Mehr an Rechtssicherheit. Leitentscheidungen des BGH bedeuten zugleich ein hohes Niveau an einheitlicher Rechtsprechung, da die Gefahr divergierender Entscheidungen durch Instanzgerichte eingedämmt werden wird. Es bleibt abzuwarten, wie sich das neue Verfahren, sollte es Gesetz werden, in der Praxis bewährt und ob es die prognostizierten Wirkungen entfalten wird. Ein Schritt in die richtige Richtung ist der Entwurf zweifellos, denn Zeit und Ressourcen werden im Sinne der effizienten Rechtsfindung geschont.