Neue Entwicklungen im Europäischen Kartellrecht der Vertriebsvereinbarungen
Die von der Europäischen Kommission am 9. Juli 2021 veröffentlichten Entwürfe für eine überarbeitete Vertikal-GVO und Leitlinien enthalten einige bedeutende Neuerungen sowie Klarstellungen. Ein Überblick über die ab 1. Juni 2022 zu erwartenden Änderungen.
Am 31. Mai 2022 läuft die aktuelle Vertikal-GVO aus, die im Bereich der Vertriebsverträge für Rechtssicherheit sorgt. Die Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 330/2010 über vertikale Vereinbarungen ermöglicht in ihrem Anwendungsbereich eine rechtssichere Gestaltung von Vertriebssystemen und vertikalen Vereinbarungen. Durch das Prinzip der Legalausnahme sind wettbewerbsbeschränkende Regelungen in vertikalen Vereinbarungen, die in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fallen, freigestellt und damit kartellrechtswirksam. Nach dem System der Vertikal-GVO gibt es Kernbeschränkungen („hardcore restrictions“ oder auch „schwarze Klauseln“), die die Freistellungswirkung für die gesamte Vereinbarung, in welcher die Kernbeschränkung enthalten ist, entfallen lassen. Daneben regelt die Vertikal-GVO eine Reihe weniger gravierende Beschränkungen („graue“ oder „rote“ Klauseln genannt), die für sich genommen nicht freigestellt sind und aber die Freistellung der übrigen Regelungen des Vertrags unberührt lassen.
An diesem erfolgreichen System der Gruppenfreistellung hält die Europäische Kommission auch mit ihrem Entwurf einer überarbeiteten Vertikal-GVO fest. Der Entwurf vom 9. Juli 2021 entspricht im Wesentlichen der aktuell anwendbaren Vertikal-GVO 330/2010. Die von der Kommission vorgeschlagenen Änderungen sollen auf die Entwicklung der Märkte und die geänderte Vertriebslandschaft eingehen: Die Europäische Kommission stellte fest, dass der duale Vertrieb, bei dem also der Hersteller oder Importeur nicht nur über Vertriebsmittler an Endkunden herantritt, sondern zu seinen Vertriebsmittlern mit direktem Vertrieb in Konkurrenz tritt, zugenommen habe. Ferner hat gegenüber der Situation bei Erlass der bereits 11 Jahre alten Vertikal-GVO die Bedeutung von Online-Vermittlungsdiensten und Online-Marktplätzen erheblich zugenommen. Diese erfahren daher eine eigene Regelung.
Erste Änderungen ergeben sich beim Anwendungsbereich der Vertikal-GVO. Bislang waren nach Art. 2 Abs. 4 Vertikal-GVO nicht gegenseitige Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern vom Anwendungsbereich ausgenommen. Einzig dann, wenn der Hersteller auf Vertriebsebene mit seinen Händlern in Wettbewerb trat („dualer Vertrieb“), war der Anwendungsbereich eröffnet. Hierüber wurden Vertriebsvereinbarungen von Importeuren und Großhändlern von der Rechtssicherheit der Vertikal-GVO ausgeschlossen. Dies soll sich nach dem Entwurf der Europäischen Kommission ändern: Mit dem neuen Art. 2 Abs. 4 werden „Großhändler und Einführer“ dem Hersteller gleichgestellt. Sind die Parteien also nur auf Vertriebsebene, nicht auf Herstellungsebene Wettbewerber, ist die Vertikal-GVO künftig anwendbar – auch wenn der Anbieter nicht Hersteller ist. Dies ist eine zu begrüßende Ausweitung der Regelungswirkung der Vertikal-GVO.
Kritisch bewertet wird hingegen die neue Regelung in Art. 2 Abs. 6 Vertikal-GVO-E, wonach im Bereich des dualen Vertriebs die Freistellung entfällt, sofern die Vereinbarung eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung enthält. Dies konterkariert die allgemeine Freistellungswirkung der Verordnung und macht eine individuelle Prüfung der Vereinbarungen erforderlich.
Zudem soll der Informationsaustausch zwischen den Parteien im Fall des dualen Vertriebs oberhalb eines gemeinsamen Marktanteils von 10 % (die Vertikal-GVO erfasst hingegen Parteien mit einem Marktanteil von bis zu 30 %) von der Freistellungswirkung ausgenommen sein. Der Entwurf verweist diesbezüglich auf die Vorschriften für horizontale Vereinbarungen. Hierzu überarbeitet die Europäische Kommission derzeit ebenfalls entsprechende Leitlinien. Es bleibt zu hoffen, dass den Marktbeteiligten hier klare Vorgaben an die Hand gegeben werden. Die Regelung des bisherigen Entwurfs könnte dazu führen, dass Mitteilungen der Händler über ihre Verkaufszahlen an den Hersteller, der mit Direktvertrieb in Wettbewerb zu seinen Händlern steht, kartellrechtlich kritisch zu beurteilen wären.
Nicht abschließend geklärt ist bislang die Einordnung von Online-Vermittlungsdiensten und Online-Marktplätzen. Der Entwurf sieht nun vor, dass Online-Vermittlungsdienste als Anbieter einer Vermittlungsdienstleistung eingeordnet werden. Für sie soll nach den überarbeiteten Leitlinien das Handelsvertreterprivileg nicht gelten, mit welchem Regelungen in Vermittlungsverträgen von der kartellrechtlichen Prüfung ausgenommen werden. Unter die Definition sollen solche Online-Dienste fallen, die eine Transaktion zwischen Unternehmen und anderen Unternehmen oder Endverbrauchern vermitteln, und zwar unabhängig davon, ob bzw. wo diese Transaktionen letztlich abgeschlossen werden, Art. 1 Abs. 1 lit. d) Vertikal-GVO-E.
Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten, die auf Vertriebsebene in Wettbewerb zu ihren Auftraggebern treten, sollen nach Art. 2 Abs. 7 Vertikal-GVO-E vom Anwendungsbereich der Vertikal-GVO ausgenommen werden. Für Anbieter wie Amazon, die neben Vermittlungsdiensten selbst Produkte an die Endkunden vertreiben, soll daher die Wirkung der Gruppenfreistellung nicht gewährt werden und eine individuelle Prüfung erforderlich sein.
Ausdrücklich nicht freigestellt und damit unwirksam sind Meistbegünstigungsklauseln von Online-Vermittlungsdiensten, die dem Abnehmer der Vermittlungsleistung untersagen, über konkurrierende Online-Vermittlungsdienste zu günstigeren Preisen anzubieten. Diese Regelung gilt nicht für enge Meistbegünstigungsklauseln, die etwa einem Hotel untersagen, auf der eigenen Webseite bzw. im eigenen Vertrieb günstigere Preise anzubieten als über das Vermittlungsportal. Diese sind somit (bei entsprechendem Marktanteil unterhalb von 30 %) nach dem Entwurf und Rz. 336 der überarbeiteten Leitlinien freigestellt.
Flexibler werden die Gestaltungen von Gebietszuweisungen nach dem Entwurf: Bislang konnten Gebiete oder Kundengruppen jeweils nur einem Abnehmer exklusiv zugewiesen werden. Der Entwurf sieht nun vor, dass auch eine Zuweisung eines Gebietes oder einer Kundengruppe an eine „begrenzte Zahl von Abnehmern“ möglich sein soll, wobei die Zahl der Abnehmer „im Verhältnis zu dem zugewiesenen Gebiet“ stehen soll, „um zum Schutz der Investitionen der Abnehmer ein bestimmtes Geschäftsvolumen zu sichern“. Dem Hersteller wird damit die Möglichkeit eröffnet, beispielsweise in einem Land zwei im Wettbewerb stehenden Händlern gemeinsam die exklusive, vor allen übrigen Abnehmern geschützte Bearbeitung des Marktes zu übertragen. Die Wirksamkeit dieser Gebietszuweisung wird auch weiterhin davon abhängen, dass den übrigen Abnehmern der Vertrieb in diese Alleinvertriebsgebiete untersagt ist. Die sorgfältige Gestaltung und Abstimmung aller Vertriebsvereinbarungen bleibt also weiterhin essentiell, sobald mindestens ein Alleinvertriebsgebiet besteht.
Der Entwurf sieht vor, dass Gebietsbeschränkungen dann an Kunden des Abnehmers weitergereicht werden können, wenn diese entsprechende Vertriebsvereinbarungen mit dem „Anbieter oder mit einer Partei, die vom Anbieter Vertriebsrechte erhalten hat“ geschlossen haben. Auch weiterhin wird es nicht zulässig sein, den Abnehmern lediglich die Pflicht aufzuerlegen, durch eigene Vereinbarungen mit den Kunden den Schutz eines Gebiets oder einer Kundengruppe weiterzureichen. Hingegen soll es zulässig werden, den Ausschluss nicht zugelassener Händler innerhalb eines Selektivgebietes an die Kunden des Abnehmers weiterzureichen – dies steht nicht unter dem Vorbehalt einer entsprechenden Vertriebsvereinbarung der Kunden des Abnehmers.
Preisunterschiede für offline und online weitervertriebene Produkte („dual pricing“) soll nach den überarbeiteten Leitlinien künftig zulässig werden, soweit der Preisunterschied die unterschiedlichen Kosten der Vertriebswege berücksichtigt.
Die sogenannte „Logo-Klausel“, wonach die Nutzung von Online-Portalen, deren Logo für den Endkunden erkennbar ist, beschränkt werden kann, entfällt. Die Leitlinien übernehmen die Rechtsprechung des EuGH, wonach die Beschränkung der Nutzung von Online-Portalen und Online-Vermittlungsdiensten im Einzelnen geprüft werden muss und die tatsächliche Nutzung des Internets durch den Abnehmer nicht de facto verhindern darf.
Zulässig wird es nach dem Entwurf, nicht nur im Selektivvertrieb, sondern künftig auch gegenüber Alleinvertriebshändlern den Niederlassungsort zu beschränken.
Für den Fall einer nach Gebieten getrennten Kombination von Alleinvertrieb und Selektivvertrieb sieht der Entwurf ausdrücklich vor, dass auch den Alleinvertriebshändlern und sogar auch deren Kunden der Verkauf an nicht zugelassene Händler im Gebiet des Selektivvertriebs untersagt werden kann. Der Verordnungsentwurf geht somit auf die im Einzelnen notwendigen Regelungen bei einem Nebeneinander verschiedener Vertriebssysteme ein.
Zu begrüßen ist, dass nach den überarbeiteten Leitlinien eine automatische Verlängerung von auf fünf Jahren befristeten Wettbewerbsverboten unter bestimmten Voraussetzungen zulässig werden soll. Bislang lässt eine automatische Verlängerung die Freistellung eines Wettbewerbsverbotes, dem der Abnehmer unterliegt, entfallen.
Dr. Philine Fabig, Rechtsanwältin
Hamburg