Erster Regierungsentwurf für die neue deutsche Verbandsklage
Die Bundesregierung hat am 29. März 2023 den ersten Regierungsentwurf für ein Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG) veröffentlicht. Das VDuG dient der Umsetzung der Richtlinie „über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG“ (sog. Verbandsklage-Richtlinie). Damit rückt die neue deutsche Verbandsklage nun näher.
Der Referentenentwurf sieht zusätzlich zur Musterfeststellungsklage eine neue Sammelklage, die sog. Abhilfeklage zur kollektiven Geltendmachung von Verbraucheransprüchen (z.B. Gewährleistung und Schadensersatz) gegen Unternehmen, vor.
Die Umsetzung der Verbandsklage-Richtlinie in deutsches Recht war zuletzt ins Stocken geraten. Grund waren Unstimmigkeiten zwischen dem Bundesjustizministerium (BMJ) und dem Umwelt- und Verbraucherschutzministerium (BMUV). Das BMJ hatte daher erst am 16. Februar 2023 einen Referentenentwurf veröffentlicht. Mit dem Regierungsentwurf wurden nun wesentliche Streitpunkte zwischen dem BMJ und BMUV beigelegt.
Hintergrund
Die Verbandsklage-Richtlinie sieht die ersten EU-weiten Regeln für eine EU-Sammelklage vor. Die EU-Sammelklage soll Verbraucherinnen und Verbrauchern einen verbesserten Schutz bei Massenschadensereignissen gewähren, ohne das Interesse von Unternehmen an Rechtssicherheit aus den Augen zu verlieren.
Seit Inkrafttreten der Verbandsklage-Richtlinie hatten die Mitgliedsstaaten für die Umsetzung in nationales Recht eigentlich bis zum 25. Dezember 2022 Zeit. Der Richtlinie zufolge soll die innerstaatliche Umsetzung spätestens bis zum 25. Juni 2023 erfolgen. Mitgliedsstaaten, wie z.B. Niederlande, haben die Verbandsklage-Richtlinie bereits umgesetzt.
Eckpunkte der neuen deutschen Abhilfeklage:
Aus dem Gesetzesentwurf zeichnen sich folgende Eckpunkte der neuen deutschen Abhilfeklage ab:
- Klageberechtigte qualifizierte Einrichtungen
Klagebefugt sollen nur staatlich anerkannte qualifizierte Einrichtungen (Verbände) sein.
Neben deutschen Einrichtungen sollen auch ausländische Einrichtungen anderer Mitgliedsstaaten allein oder neben deutschen qualifizierten Einrichtungen klageberechtigt sein, wenn sie die Voraussetzungen des jeweiligen Mitgliedsstaates erfüllen. Damit ist denkbar, dass zukünftig auf Sammelklagen spezialisierte Verbände z.B. aus den Niederlanden, auch in Deutschland tätig werden.
Neu ist im Regierungsentwurf, dass die Anforderungen an qualifizierte Einrichtungen abgesenkt worden sind. Notwendig ist nur noch die Eintragung des Verbandes in der Liste beim Bundesamt der Justiz. Zudem darf der Verband nicht mehr als fünf Prozent seiner finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen beziehen. Dagegen sind Verbände mit weitgehend gewerbsmäßiger Tätigkeit oder Gewinnerzielungszweck nicht mehr als qualifizierte Einrichtung ausgeschlossen. Der Kreis der Klageberechtigten ist insoweit vergrößert worden.
- Gegenstand der Abhilfeklage
Mit der Abhilfeklage soll eine direkte Klage auf Leistung (z.B. Leistung, Schadensersatz oder Handlung) möglich sein. Dagegen war bislang mit der Musterfeststellungsklage nur die Feststellung möglich, ob Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.
Gegenstand der Abhilfeklage sollen zudem nur gleichartige Ansprüche sein von
- mind. 50 Personen (Verbraucher) oder
- kleinen Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten und Jahresumsatz/ -bilanz von weniger als EUR 10 Mio.
Diese Ansprüche müssen von der qualifizierten Einrichtung lediglich glaubhaft gemacht werden.
Eine Hürde dürfte weiterhin die „Gleichartigkeit“ von Ansprüchen bleiben. Diese kommt nur in Betracht, wenn sich die Anspruchsvoraussetzungen einheitlich für sämtliche Fälle überprüfen lassen.
Neu ist im Regierungsentwurf, dass die anspruchsberechtigten Verbraucher und kleinen Unternehmen in der Klage noch nicht genannt werden müssen. Es muss nur glaubhaft gemacht werden, dass von der jeweiligen Verbandsklage überhaupt Verbraucher und kleine Unternehmen in der notwendigen Anzahl betroffen sein können.
- Betroffene Rechtsbereiche
Die Abhilfeklage soll sachlich nicht auf bestimmte Verbraucherrechte beschränkt sein. Der Referentenentwurf sieht damit eine überschießende Umsetzung der Verbandsklage-Richtlinie vor.
Die Verbandsklage-Richtlinie sieht die EU-Sammelklage lediglich für bestimmte Verbraucherschutzrechte, insbesondere Fragen des Datenschutzes, der Finanzdienstleistungen, Energie-, Umwelt- und Gesundheitsfragen sowie Flug- und Zuggastrechten, vor.
- Beteiligung an der Abhilfeklage
Der Referentenentwurf sieht für die Beteiligung an der Abhilfeklage eine Opt-In-Variante vor. Das bedeutet, dass Verbraucher und kleine Unternehmen für die Beteiligung an der Abhilfeklage optieren müssen (formlos z.B. per E-Mail). Noch unklar ist, ob auch ein späterer Opt-In und damit eine rückwirkende Verjährungshemmung möglich sein werden.
Die Richtlinie sieht insoweit keine Harmonisierung vor. Die Entscheidung hierüber liegt bei den Mitgliedsstaaten, sodass ein Flickenteppich droht. Zum Vergleich: Das niederländische Recht sieht für die dortige Sammelklage eine Opt-Out-Variante vor, wohingegen ein Opt-In nur für ausländische Verbraucher gilt.
Von Bedeutung ist der Opt-In für die Verjährungshemmung. Die Abhilfeklage hemmt nur Ansprüche solcher Verbraucher und kleiner Unternehmen, die fristgerecht ihren Opt-In erklärt haben.
Damit kommt die Abhilfeklage nicht nur im Hinblick auf die Einhaltung von EU-Vorschriften und deren nationale Umsetzungsvorschriften (z.B. die EU-Produkthaftungsrichtlinie (85/374/EWG) und das Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG)) in Betracht.
Neu im Regierungsentwurf ist, dass die Anmeldung bzw. der Opt-In sogar noch zwei Monate nach der ersten mündlichen Verhandlung erfolgen kann. Dies entspricht einer wesentlichen Forderung des BMUV zugunsten der Verbraucher und ist – im Vergleich zur Musterfeststellungsklage, bei der eine Anmeldung bis einen Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung erfolgen muss – ein weitaus längerer Zeitraum. Der Referentenentwurf sah noch vor, dass die Anmeldung nur bis zum Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung erfolgen darf, sodass hierbei ein Gleichlauf zur Musterfeststellungsklage bestand.
- Verfahren der Abhilfeklage
Für die Abhilfeklage sind die folgenden zwei Stufen vorgesehen:
- Stufe 1: Abhilfeverfahren
Im Abhilfeverfahren erfolgt die Prüfung gleichartiger Ansprüche dem Grunde nach. Eingangsinstanz sind dabei die Oberlandesgerichte. Das Abhilfeverfahren schließt ab mit einem Abhilfegrundurteil über die Berechtigung der Ansprüche.
Zur Umsetzung des Abhilfegrundurteils können die Parteien entweder einen Vergleich schließen. Alternativ erlässt das Gericht ein Abhilfeendurteil und fordert das Unternehmen zur Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags an einen Sachwalter auf. Der kollektive Gesamtbetrag wird vom Gericht frei bestimmt.
Neben dem Abhilfeverfahren sollen Individualklagen von Verbrauchern und kleinen Unternehmen weiterhin möglich sein, die sich nicht am Abhilfeverfahren beteiligen. Umgekehrt müssen Einwendungen der Unternehmen gegen einzelne Ansprüche in einem gesondertem Klageverfahren geltend gemacht und ggf. ausgezahlte Beträge zurückverlangt werden.
- Stufe 2: Umsetzungsverfahren
Im Umsetzungsverfahren soll die Verteilung des kollektiven Gesamtbetrags durch einen Sachwalter erfolgen. Der Sachwalter soll die Anspruchsberechtigung jeweils eigenständig prüfen und Beträge an berechtigte Verbraucher und kleine Unternehmen auszahlen.
Wichtig ist hierbei, dass der kollektive Gesamtbetrag nicht endgültig ist. Reicht der Betrag zur Befriedigung der Verbraucher bzw. kleiner Unternehmen nicht aus, kann der Betrag auf Antrag des klagenden Verbands nachträglich erhöht werden. Verbleibende Beträge werden an das Unternehmen zurückgezahlt.
Verhältnis zur Musterfeststellungsklage
Die Musterfeststellungsklage soll weiterhin bestehen bleiben. Mit ihr kann alternativ auch in Zukunft zunächst nur abstrakt ein Schadensersatzanspruch (nicht vollstreckungsfähig) festgestellt werden, welcher in einem zweiten Schritt gesondert und individuell eingeklagt werden muss.
Ausblick
Es bleibt das weitere Gesetzgebungsverfahren abzuwarten. Bereits jetzt zeichnet sich durch die Stellungnahmen unterschiedlicher Stakeholder Nachbesserungsbedarf ab. Streitpunkte sind hierbei u.a.: die Anforderungen an die Klagebefugnis, der Zeitpunkt für den Opt-In, die Auswirkungen der Verjährungshemmung sowie die Anforderungen an die Prozessfinanzierung.
Deutlich wird bereits, dass die Umsetzung der Verbandsklage-Richtlinie europaweit nicht einheitlich erfolgt. Klagebefugte qualifizierte Einrichtungen werden daher wohl künftig sehr genau prüfen, in welchem Mitgliedsstaat die besten Rahmenbedingungen für ein Klageverfahren bestehen (sog. „Forum-Shopping“). Je verbraucherfreundlicher die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht erfolgt, desto eher werden qualifizierte Einrichtungen in diesen Mitgliedstaaten klagen.