Das Ende der Präklusion im Umweltrecht
Wieder einmal hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) sich mit den deutschen umweltrechtlichen Verfahrensvorschriften befasst und wieder einmal haben sie der Prüfung nicht standgehalten. Diesmal hat es vor allem die Präklusionsvorschriften getroffen.
Das jüngste Urteil des EuGH reiht sich ein in die Entscheidungen aus den Jahren 2011 (Trianel) und 2013 (Altrip), die bereits erheblich an den Grundfesten des deutschen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts gerüttelt hatten.
Der Hintergrund der deutschen Präklusionsvorschriften
Das deutsche Umweltrecht sieht in einer Vielzahl von Gesetzen, unter anderem in § 2 Abs. 3 des Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG) und § 73 Abs. 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), sogenannte Präklusionsregelungen vor. Nach diesen Vorschriften ist ein Kläger (und insbesondere auch ein Umweltverband) im Gerichtsverfahren mit allen Einwendungen ausgeschlossen, die er im Verfahren nicht oder nicht rechtzeitig geltend gemacht hat, aber hätte geltend machen können. Diese Vorschriften dienen zum einen der Rechtssicherheit für Behörden und vor allem für Vorhabenträger, für die frühzeitig erkennbar sein soll, welche Bedenken gegen ein Vorhaben bestehen. Zum anderen sollen sie ein effizientes Verwaltungsverfahren sicherstellen, indem sich die Behörde frühzeitig mit allen Bedenken auseinandersetzen und diese berücksichtigen kann.
Die Sicht des EuGH
Diese Argumente hat der EuGH nicht gelten lassen. Es sei keinesfalls erwiesen, dass eine umfassende gerichtliche Kontrolle dem Grundsatz der Rechtssicherheit abträglich sein könnte. Die Verfahrenseffizienz möge zwar durch den Wegfall der Präklusionsvorschriften behindert werden, aber Ziel der Europäischen Vorschriften sei es, eine umfassende materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen zu ermöglichen. Kurz gesagt: die Präklusionsvorschriften verstoßen nach Auffassung des EuGH gegen das Europarecht.
Konsequenzen für die Praxis
Das ganze Ausmaß der Konsequenzen des Urteils für die verwaltungsbehördliche sowie verwaltungsgerichtliche Praxis in Deutschland ist noch nicht absehbar. In bereits anhängigen Verfahren führt die Entscheidung dazu, dass auch zuvor nicht eingewendete Aspekte nun nachträglich zum Gegenstand des Prozesses gemacht werden können. Noch erheblicher dürften die Konsequenzen für zukünftige Verfahren sein: Hier steht zu befürchten, dass bestimmte Aspekte im Verwaltungsverfahren bewusst nicht geltend gemacht werden, um eine Berücksichtigung durch die Behörden zu verhindern und so eine spätere Aufhebung im gerichtlichen Verfahren zu erreichen. Hierdurch sind eine erhebliche Schwächung des behördlichen Beteiligungsverfahrens sowie eine Verlagerung von Problemen in den Verwaltungsprozess zu befürchten.
Auftrag an den Gesetzgeber
Um die Gefahr eines Missbrauchs durch taktische Zurückhaltung von Einwendungen im Verwaltungsverfahren zu verhindern und die Wirksamkeit gerichtlicher Verfahren zu gewährleisten, hat der EuGH allerdings eine Hintertür geöffnet: Der nationale Gesetzgeber könne spezifische Verfahrensvorschriften vorsehen, nach denen z.B. ein missbräuchliches oder unredliches Vorbringen unzulässig ist. Wie eine solche Regelung aussehen könnte, ist jedoch noch gänzlich unklar. Hier wird der Gesetzgeber gefragt sein, der unter Beachtung der strengen Sicht des EuGH eine Vorschrift formulieren müsste, die zumindest einen Missbrauch der neuen Rechtslage eindämmt. Dass die Rechtssicherheit für die Vorhabenträger durch die Entscheidung des EuGH erheblich eingeschränkt wurde, wird sich nicht mehr beheben lassen.
Entwarnung für die Schutznormtheorie
Verschont geblieben ist – entgegen der schlimmsten Befürchtungen – die vom Generalanwalt in seinen Schlussanträgen ebenfalls ins Visier genommene Schutznormtheorie. Diese hat der EuGH, wie bereits 2011 im Rahmen seiner Trinael-Entscheidung (Urteil vom 12. Mai 2011, C-115/09), unangetastet gelassen. Das Europarecht hindere die Mitgliedstaaten nicht grundsätzlich daran, den Rechtsschutz auf die Geltendmachung subjektiver Rechte zu beschränken, solange diese Beschränkung die Umweltverbände nicht betreffe.
(EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2015 - C-137/14)
Corinna Lindau, LL.M., Rechtsanwältin, Hamburg